Der Schamanismus und die moderne Psychologie pflegen enge und fruchtbare Beziehungen, die neue Perspektiven für das Verständnis und die Heilung der menschlichen Psyche eröffnen. Obwohl diese beiden Ansätze auf den ersten Blick weit auseinander zu liegen scheinen, teilen sie tatsächlich viele Gemeinsamkeiten, sowohl in ihrer Sicht auf den Menschen als auch in ihren Methoden zur Erforschung des Unbewussten.

Einer der Pioniere dieser Annäherung ist der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung, der Gründer der analytischen Psychologie. Jung interessierte sich sehr für schamanische Traditionen und sah in ihnen einen privilegierten Zugang zum kollektiven Unbewussten und den universellen Archetypen, die die Psyche strukturieren. Er studierte insbesondere die Praktiken der Pueblo-Schamanen in Nordamerika und wurde selbst bei seinen Reisen nach Afrika und Indien in schamanische Rituale eingeweiht. Für Jung ist der Schamane ein Seelenheiler, der in die Tiefen des Unbewussten eintaucht, um dort die dunklen Kräfte zu konfrontieren und Heilschätze zurückzuholen. Seine Höllenfahrt und sein Konfrontation mit den Geistern sind Motive, die in vielen Initiationsmythen zu finden sind und den Individuationsprozess symbolisieren, durch den das Individuum zu seinem wahren Selbst gelangt.

Diese Sicht des Schamanismus als Weg der Individuation wurde von vielen transpersonalen Psychologen, wie Stanislav Grof oder Charles Tart, aufgegriffen und weiterentwickelt. Für sie ermöglichen die durch schamanische Praktiken (Trance, innere Reisen, Gebrauch von psychotropen Pflanzen) induzierten veränderten Bewusstseinszustände den Zugang zu Wirklichkeitsebenen, die dem gewöhnlichen Bewusstsein normalerweise unzugänglich sind. Diese veränderten Bewusstseinszustände fördern eine Erweiterung des Bewusstseins, die es ermöglicht, die Grenzen des Selbst zu überwinden und sich mit archetypischen, spirituellen oder kosmischen Dimensionen des Seins zu verbinden. Sie bieten somit ein immenses Potenzial für Heilung und innere Verwandlung, indem sie helfen, traumatische Erinnerungen zu lösen, begrenzende Konditionierungen zu überwinden und die tiefen Ressourcen der Psyche zu reaktivieren.

Anekdote: Der Psychiater Stanislav Grof führte zahlreiche Untersuchungen zu den durch Atmung induzierten holotropischen Bewusstseinszuständen durch und stellte verblüffende Ähnlichkeiten mit den von Schamanen während ihrer Trancen erlebten Erfahrungen fest. Er erzählt insbesondere den Fall einer Patientin, die an schwerer Depression litt und während einer Sitzung ihre eigene Geburt sehr intensiv nacherlebte. Sie sah sich im Geburtskanal feststecken, und verzweifelt kämpfend, um herauszukommen, und realisierte, dass diese perinatale Erinnerung der Ursprung ihres Gefühls der Machtlosigkeit und ihrer Unfähigkeit war, im Leben voranzukommen. Indem sie symbolisch diese Geburt nacherlebte und sich aus dem “Tunnel” befreite, löste sie eine immense Lebensenergie aus und fühlte sich buchstäblich “wiedergeboren” und von ihrer Depression geheilt. Für Grof zeigt diese Art von Erfahrung, dass die von den Schamanen erarbeitete Kartographie des Unbewussten der von der Tiefenpsychologie aufgezeigten entspricht.

Eine weitere Brücke zwischen Schamanismus und Psychologie besteht in der therapeutischen Verwendung von Trancezuständen. Viele Psychotherapeuten lassen sich von schamanischen Techniken inspirieren, um bei ihren Patienten veränderte Bewusstseinszustände zu induzieren, die zur Heilung beitragen. Das ist beispielsweise bei Milton Erickson der Fall, dem Begründer der Erickson’schen Hypnose, der Metaphern, Geschichten und indirekte Anregungen nutzte, um seine Patienten auf innere Reisen zu führen, die den schamanischen Visionen ähnelten. Das ist auch der Fall bei Therapeuten, die Techniken der holotropischen Atmung, der hypnotischen Trance oder der geführten Visualisierung verwenden, um auf die unbewussten Ressourcen ihrer Patienten zuzugreifen. Diese nicht-alltäglichen Ansätze ermöglichen oft das Überwinden von therapeutischen Stagnationen, indem sie Widerstände des Ego umgehen und direkt auf das Selbstheilungspotential der Psyche zugreifen.

Schließlich treffen Schamanismus und moderne Psychologie in ihrer Auffassung von Geisteskrankheit als einer potenziell sinn- und heilsamen Initiationskrise zusammen. Während die klassische Psychiatrie psychische Störungen meist als abzuschaffende Fehlfunktionen sieht, betrachtet der schamanische Ansatz sie als schmerzhafte, aber notwendige Transformationsprozesse, durch die die Seele versucht, ihre Integrität wiederherzustellen und ihr Schicksal zu verwirklichen. Die Rolle des Therapeuten-Schamanen besteht dann darin, diesen Prozess zu begleiten und zu lenken, dem Patienten zu helfen, ihm einen Sinn zu verleihen und seine Lehren zu integrieren. Es geht nicht darum, Symptome um jeden Preis loszuwerden, sondern sie als Botschafter zu begrüßen, die eine verborgene Weisheit tragen und den Weg zur tiefen Heilung weisen.

Beispiel: In einigen schamanischen Kulturen werden psychotische Krisen als heilige Krankheiten betrachtet, die Zeichen einer schamanischen Berufung sind. Diejenigen, die sie durchlaufen, gelten als Wesen im Wandel, deren normale Persönlichkeit sich auflöst und Platz macht für eine größere Identität, die mit unsichtbaren Kräften verbunden ist. Wenn sie es schaffen, die Initiationsprüfung zu bestehen, ohne darin unterzugehen, kommen sie oft geheilt und mit Heilfähigkeiten aus ihr hervor, die sie zum Wohl ihrer Gemeinschaft einsetzen können. Diese Vorstellung geht mit der bestimmter “abweichender” Psychiater wie John Weir Perry oder Stanislav Grof einher, die in der psychotischen Krise einen potenziell umwandelnden Prozess der spirituellen Eröffnung sehen, vergleichbar mit einem schamanischen Initiationsritus.

Es zeigt sich also, dass sich Schamanismus und Tiefenpsychologie nicht gegenseitig ausschließen, sondern sich fruchtbar ergänzen und neue Wege für das Verständnis und die Heilung von Seelenleiden eröffnen. Indem sie uns einladen, in die Abgründe des Unbewussten einzutauchen und dort Schätze an Sinn und Lebenskraft zu schöpfen, geben sie uns eine erweiterte Sicht auf die geistige Gesundheit, die nicht an eine sterilisierte “Normalität” gebunden ist, sondern die Ganzheit des Seins in seinen archetypischen und heiligen Dimensionen einbezieht. In einer Zeit, in der die moderne Psychiatrie Schwierigkeiten hat, das existentielle Unbehagen zu heilen, das unsere Gesellschaften plagt, scheint diese Verbindung von uralter Weisheit und Erkenntnissen der Seelenwissenschaft dringender denn je erforderlich zu sein, um unser Verhältnis zum Wahnsinn neu zu erdenken und die Wunden der modernen Psyche zu heilen.

Zu merken:

– Der Schamanismus und die moderne Psychologie, insbesondere die Tiefenpsychologie, haben in ihrer Herangehensweise an die menschliche Psyche viele Gemeinsamkeiten.

– Carl Gustav Jung, der Begründer der analytischen Psychologie, interessierte sich stark für schamanische Traditionen und sah in ihnen einen Zugang zum kollektiven Unbewussten und zu universellen Archetypen.

– Die durch schamanische Praktiken induzierten veränderten Bewusstseinszustände ermöglichen den Zugang zu Ebenen der Realität, die normalerweise unzugänglich sind, fördern eine Erweiterung des Bewusstseins und bieten ein Potenzial für Heilung und innere Transformation.

– Viele Psychotherapeuten lassen sich von schamanischen Techniken inspirieren, um bei ihren Patienten veränderte Bewusstseinszustände zu induzieren, mit dem Ziel, therapeutische Prozesse freizusetzen und auf das Selbstheilungspotenzial der Psyche zuzugreifen.

– Schamanismus und moderne Psychologie treffen in ihrer Sicht der Geisteskrankheit als potenziell sinnstiftende und heilende Initiationskrise zusammen, die eine Begleitung erfordert, um ihre Lehren zu integrieren.

– Diese Verbindung zwischen uralter Weisheit und den Erkenntnissen der Seelenwissenschaft bietet eine erweiterte Sicht auf die geistige Gesundheit, die das gesamte Sein in seinen archetypischen und heiligen Dimensionen einbezieht und neue Wege zur Heilung der Wunden der modernen Psyche eröffnet.

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